Mit großer Ergriffenheit hören viele Gläubige jedes Jahr am Karfreitag die Johannespassion, genial komponiert von Johann Sebastian Bach. Viele sind ergriffen vom erschütternden Geschehen des Kreuzestodes Christi. Dennoch hat Bach dieses brutale Ereignis eingetaucht in eine verklärende Schönheit und in ein fast österliches Licht. Bachs Kompositionen enden zwar beim Begräbnis Jesu, sie leben aber bereits von der Gewißheit des Ostertages und der Auferstehung. Sie verbreiten eine Hoffnung, die auch in der Nacht des Todes nicht erlischt.
Eine ganz andere Art von Passion hat jedoch der moderne polnische Musiker Christoph Penderecki komponiert. Statt der trostreichen und einfühlenden Musik von Bach hört man da die gequälten Schreie der Gefangenen aus dem KZ Auschwitz, die brutalen Komandostimmen der Bewacher und das hoffnungslose Seufzen der Sterbenden. Dies ist der Karfreitag des 20.Jahrunderts.
Aber hat sich das im 21. Jahrhundert gewandelt? Wird da nicht immer noch das Antlitz des Menschen verspottet, gedemütigt und zerschlagen oder gar zerfetzt durch Terroranschläge, Gewalt und Brutalitäten aller Art? „Von überall her“, so schreibt Joseph Ratzinger in seinem Buch Dogma und Verkündigung, „ blickt uns auch heute das Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn an“. Dies gewiss auch im Gesicht von abertausenden Flüchtlingen, die vor den Toren Europas stehen. Die Passion Jesu, des Gottes- und Menschensohnes ist noch nicht zu Ende, sie geht auch heute weiter. Wie aber mit all dem Schmerz und Leid, auch mit dem eigenen Leid, das jeden von uns persönlich oder seine Familie treffen kann, fertig werden?
Das Kreuz Christi, das im Mittelpunkt der Karfreitagsliturgie steht, macht zwar den ganzen Ernst menschlichen Leids, aber auch menschlicher Sünde sichtbar. Dennoch wurde in all den Jahrhunderten der Kirchengeschichte das Kreuz und der Gekreuzigte oftmals als Bild des Trostes und der Hoffnung empfunden.
Im Eingangsbereich der Stadtpfarrkirche St. Johannes ist eine gelungene Kopie des sogenannten Isenheimer Altars von Matthias Grünewald zu sehen. Es ist vielleicht das erregenste Kreuzesbild der Christenheit überhaupt. Es stammt aus einem Antoniterkloster im Elsaß, in dem Menschen gepflegt wurden, die von Aussatz und Pest befallen waren. Als solchen hat auch Grünewald Christus am Kreuz gemalt. Vor diesem Bild beteten die Mönche mit ihren Kranken. Es war für sie ein großer Trost, dass in Jesus am Kreuz Gott selbst ein Leidender war und mit ihnen gelitten hat. Sie erfuhren die Gegenwart des Gekreuzigten in ihrem eigenen Kreuz. In ihrem Leid wußten sie sich getragen und umarmt von der göttlichen Barmherzigkeit. Sie erfuhren Erlösung. Sie machten die Erfahrung: Unser Leid ist wie das Leiden Jesu in der Johannespassion von Bach schon umpfangen vom österlichen Licht.
Aber ist das nicht billige Vertröstung, wie es einst der Marxismus dem Christentum vorgeworfen hat? Wäre es nicht besser, die Menschen von jeglichem Leid zu erlösen, sagte man. Aber geht das wirklich? Solange es Menschen gibt, gibt es unschuldiges Leid oder auch Leid, das Menschen sich gegenseitig antun. Weil das so ist, hat die Kirche seit Jahrhunderten versucht, sich dem Leid und dem Elend zu stellen: Durch Pflegedienste, durch die Sozialstationen der Caritas und der Diakonie und nicht zuletzt durch das segenseiche und selbstlose Wirken unzähliger Ordensgemeinschaften. Denken wir nur an das weltweite Netz der seligen Mutter Teresa, die Papst Franziskus noch in diesem Jahr heilig sprechen wird.
Gerade diese Mutter Teresa Schwestern, von denen erst vier vor kurzem in Aden im Jemen während ihres Dienstes an alten Menschen feige ermordet wurden, sagen uns: „Bevor wir in Aden, Kalkutta, Bombay oder anderswo auf die Straße gehen, um Sterbende einzusammeln, knien wir uns nieder vor dem Allerheiligsten. Denn Christus gibt uns Kraft zur Liebe und die Kraft, all das Leid zu lindern oder aushalten zu können“. Ist das nicht die Antwort des Karfreitags auf die gewiss nicht einfache Frage: Wie steht Gott zum Leid und was ist unsere Antwort? Der Karfreitag lädt jeden ganz persönlich ein, für sich selbst eine Antwort darauf zu finden.