"Wir spielen eine Sprache"


Die interessantesten Partien werden per Beamer an die Leinwand geworfen.
Fotos: Martin Simon
Von Sebastian Mösl*

Die Spannung in dem riesigen Saal ist beinahe mit den Händen zu greifen. Angespanntheit liegt in der Luft, sekündlich hört man die Auslöser der Kameras – Blitze zucken, Stühle werden zurechtgerückt. Der lang erwartete Augenblick rückt näher und näher. Dennoch wirken die Hauptdarsteller nach außen sehr gefasst, innerlich jedoch scharren sie mit den Hufen wie Rennpferde kurz bevor sie losgelassen werden.

Punkt 15 Uhr ertönt ein lauter Gong, die Anspannung entlädt sich in einem kollektiven Griff zu den Figuren. Mehr als 500 weiße Bauern werden entschlossen in die Schlacht geschickt, kurz darauf bewegt sich eine genauso große Anzahl schwarzer Bauern in Richtung der gegnerischen Linien. Bald kommen ihnen Springer und Läufer zu Hilfe, um gemeinsam den feindlichen Monarchen zur Strecke zu bringen.


Schach-Legende Viktor Kortschnoi (links) tritt für die Schweiz an.
Er spielt seine 17. Olympiade
Es ist Donnerstag der 13. November und seit wenigen Minuten läuft das schachliche Großereignis, dem Schachfans in ganz Deutschland seit vier Jahren entgegenfiebern. Nach dem Duell Mann gegen Mann, dem Weltmeisterschaftskampf zwischen Wladimir Kramnik (Russland) und Viswanathan Anand (Indien) in Bonn im Oktober, findet nun das größte Mannschaftsturnier der Welt, die Schacholympiade im Internationalen Kongresscenter in Dresden statt.

146 Mannschaften - bestehend aus je fünf Spielern - sind im sogenannten Open am Start, womit man nur knapp den Teilnehmerrekord der Olympiade 2006 in Turin (148 Mannschaften) verpasste. Dafür ist das Damenfeld mit 111 Mannschaften das größte bisher da gewesene. Insgesamt 1270 Aktive sitzen in Dresden an den Brettern, darunter mit Ausnahme des Weltmeisters Anand alle Topstars der Szene: Kramnik, der Ungar Peter Leko, das Supertalent Magnus Carlsen aus Norwegen, der Weltranglistenerste Weselin Topalov aus Bulgarien, der Ukrainer Vassily Ivanchuk und und und. 253 Großmeister – 95 von ihnen weisen eine ELO-Zahl (die ELO-Zahl drückt die Spielstärke aus) von über 2600 auf – sorgen für das stärkste Teilnehmerfeld aller Zeiten.

Im besonderen Fokus stehen natürlich die Lokalmatadoren, schickt doch der Deutsche Schachbund (DSB) jeweils drei Herren- und Damenteams ins Rennen. Das A-Team bei den Herren ist zwar nur an Position elf gesetzt, doch mit Hilfe des Heimvorteils soll für die ein oder andere Überraschung gesorgt werden. Gespannt sein darf man auf den Auftritt von Deutschland 2, der Jugendolympiamannschaft. Schon nach dem Zuschlag zur Ausrichtung im Jahre 2004 beschloss der DSB dem Nachwuchs eine Chance zu geben und rief das Programm der Jugendolympiamannschaft ins Leben. Hier wurden die besten Talente mit Zielrichtung Dresden berufen und die Entwicklung der Nachwuchsspieler ist beeindruckend. Arik Braun gewann 2006 den Weltmeistertitel in der Altersklasse U18, Georg Meier (21) und Falko Bindrich (17) wurden mittlerweile zum Großmeister ernannt, den höchsten Titel den ein Schachspieler erreichen kann. Von den weiblichen Nachwuchsspielerinnen schafften Melanie Ohme und Sarah Hoolt sogar den Sprung ins A-Team. Und mit der 13jährigen Hanna-Marie Klek vom SC 48/88 Erlangen wurde auch ein Talent des Schachbezirks Mittelfranken in das Nachwuchsteam berufen.

Die ersten Züge sind gespielt und so langsam lichtet sich die Traube der Fotografen, denn nach 15 Minuten darf kein Blitzlicht mehr verwendet werden. Dafür füllen sich im Foyer langsam die Stühle, die vor einer Großbildleinwand aufgestellt sind. Etwa Public Viewing beim Schach? In der Tat werden hier ausgewählte Partien live übertragen, d.h. die jeweilige Stellung wird in ein Schachprogramm geladen und per Beamer angezeigt. Kommentiert wird das ganze vor Ort vom Ulmer Großmeister Klaus Bischoff. Dabei kann er seine Einschätzungen optisch mittels Pfeilen oder der Einfärbung von wichtigen Feldern verdeutlichen. Obendrein besitzt er die Möglichkeit potentielle Varianten schon einmal vorzuspielen, nebenbei gibt er herrliche Anekdoten zum Besten. Dank der Mischung aus Fachkompetenz und Entertainment bleiben viele Zuschauer gebannt sitzen und huschen nur dann und wann kurz in den Spielsaal, um einen Blick auf die in Gedanken versunkenen Spieler zu erhaschen.

Wer das Glück hatte eine der limitierten Goldkarten zu ergattern, der muss nicht an den Absperrungen, die rund um die Spieltische angebracht sind, Halt machen, sondern darf sich zwischen den Tischen im Inneren des Turnierareals bewegen. Hier kann man aus nächster Nähe Menschen aus aller Welt betrachten: die typisch blonden Schweden spielen gegen braungebrannte Costaricaner, die Bermudas treffen auf Syrien, bei den Damen messen sich Algerien und Südkorea usw. Doch egal von welchem Flecken Erde die Spielerinnen und Spieler kommen, welche Hautfarbe sie haben, welcher Religion sie angehören oder wie alt sie sind, allen gemeinsam ist die Begeisterung für das Königliche Spiel, ganz nach dem Motto der Schacholympiade: Wir spielen eine Sprache.

Nach dem interessanten Studium der verschiedenen Gesichter und der Menschen, zu denen sie gehören, rücken nun wieder mehr und mehr jene 64 Felder in den Fokus, auf denen sich alles abspielt. Wer reagiert wie auf welche Eröffnungsvariante? Wie spielt ein Großmeister eine Position, die man selbst schon einmal auf dem Brett hatte? Kommen auch Spitzenspieler in Zeitnot und wie gehen sie damit um? All das lässt sich mannigfaltig beobachten. Doch bei der Fülle der angebotenen Partien – insgesamt laufen 512 – muss man sich notgedrungen auf einige wenige konzentrieren.

Eine größere Zuschauertraube versammelt sich am Brett von Magnus Carlsen, der es mit dem Österreicher Markus Ragger zu tun hat. Carlsen greift an und versucht kleinere Schwächen auszunutzen, doch Ragger verteidigt sich geschickt. Immer wieder pariert er die gegnerischen Drohungen, doch letztlich setzt sich die Hartnäckigkeit von Carlsen durch. Überraschend eng geht es zwischen den Topgesetzten Russen und der Schweiz zu. Altmeister Viktor Kortschnoi (77) spielt bereits seine 17. Olympiade und konnte bereits sechsmal mit der ehemaligen UdSSR den Titel erringen. Nun spielt er auf Brett 1 der Eidgenossen und scheint gegen Peter Svidler schon auf der Verliererstraße. Doch der alte Fuchs wirft seine ganze Erfahrung in die Waagschale und verblüfft mit einer phantastischen Verteidigungsidee: er stellt seinen König patt und bietet fortan seinen verbliebenen Turm zum Schlagen an. Damit hatte Svidler wohl nicht gerechnet und er muss zähneknirschend ins Remis einwilligen. Auch Svidlers Mannschaftskameraden tun sich trotz höherer Wertungszahlen schwer, so dass nur dank des Erfolges von Alexander Morozevich ein knapper 2,5:1,5 Auftaktsieg gelingt.

Die deutsche Mannschaft feiert einen nahezu perfekten Start ins Turnier. Gegen Schottland gewinnt man deutlich mit 3,5:0,5. Einzig David Baramidze erzielt gegen Colin McNab nur ein Remis. Eine Sensation bahnt sich in der Partie von Deutschland 2 gegen die deutlich favorisierten Bulgaren (Nr. 6) an. Diese schonen ihren Spitzenspieler Weselin Topalov, sind aber dennoch an allen vier Brettern Favorit. Doch zur Überraschung aller schlägt Georg Meier seinen Kontrahenten und gleicht damit die Niederlage von Sebastian Bogner wieder aus. Falko Bindrich hat sich einen Mehrbauern erkämpft, kommt aber im Turmendspiel nicht über ein Remis hinaus. Damit liegt nun alles an Arik Braun, der gegen den erfahrenen Kiril Georgiev zwar einen Bauern weniger hat, dafür aber eine Qualität (Turm für Springer oder Läufer) mehr. Die Stellung ist kompliziert und obendrein wird die Bedenkzeit weniger und weniger. Georgiev startet einen Königsangriff, doch Arik Braun wehrt diesen clever ab: er opfert die Qualität zurück, kann dadurch die Stellung öffnen und zwei Bauern erobern. Mit für sein Alter erstaunlicher Routine und Gelassenheit forciert er den Damentausch und bringt seinen Freibauern zur Geltung. Dank einer herrlichen Kombination zwingt er schließlich seinen Gegenüber zur Aufgabe, da nach einem erzwungenen Turmtausch die Bauernumwandlung nicht mehr zu verhindern gewesen wäre. Damit kann sich der deutsche Nachwuchs gegen ein gestandenes Weltklasseteam mit 2,5:1,5 durchsetzen – der Paukenschlag der ersten Runde.

Auch das weibliche Nachwuchsteam überrascht mit einem 2,5:1,5 Sieg gegen die höher einzuschätzenden Schwedinnen. Dagegen sind die deutschen A-Damen von ihrem Auftakt gegen den Iran enttäuscht. Zwar bringt Melanie Ohme Deutschland in Führung, doch Marta Michna hat dem Angriff ihrer Gegnerin nichts entgegenzusetzen. Als dann noch Sarah Hoolt in gewonnener Stellung unerwartet in einen Königsangriff gerät und nach etwas ungenauem Spiel die Segel streichen muss, kann Elisabeth Pähtz am Spitzenbrett nur noch Schadensbegrenzung betreiben und zum 2:2 ausgleichen. Das hat sich der Nationaltrainer doch etwas anders vorgestellt.

Fast sechs Stunden waren inzwischen seit dem Startgong vergangen und nun wurden auch die letzten Partien beendet. Ein verheißungsvoller Auftakt mit zahlreichen sehenswerten Partien liegt hinter den Spielern. Zehn weitere hart umkämpfte Runden werden folgen bis die Frage nach dem stärksten Schachteam im Jahre 2008 geklärt sein wird. Bis dahin stehen die Figuren wieder in Reih und Glied und die Uhren sind gestellt. Der Rauch der ersten Gefechte hat sich verzogen, doch schon am nächsten Tag wird die Spannung wieder zum Greifen sein, ein Gong ertönen und die Figuren in die nächste Schlacht geführt werden.

* Sebastian Mösl ist Vorsitzender des Neumarkter Schachklubs
21.11.08
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